Reigen
Frei nach "Reigen" von Arthur Schnitzler
- Vorstellungsdauer
- ca. 110 Minuten, keine Pause
Uraufführung
Premiere: Di. 11. Feb. 2020, 20.00
Über Reigen
Wegen des großen Erfolgs bereits in der zweiten Spielzeit: ein neuer REIGEN rund um Liebe, Sex und Beziehungsstress. Vor hundert Jahren waren solche Themen, insbesondere Sex, auf der Bühne noch ein Skandal. Schnitzlers Stück löste nach seiner Uraufführung nicht nur den berühmten „Reigen-Prozess“ aus, sondern auch derartige Saalschlachten und Anfeindungen, dass der Autor irgendwann selbst jegliche weitere Aufführung untersagte.
Diese Zeiten sind vorbei. Heute können wir jederzeit und kostenfrei im Internet auf alle erdenklichen Arten von Sexualität zugreifen und uns darüber auf-, er- und abregen. Sex kann heute, außer vielleicht gerade noch im Zusammenhang mit Politik, keinen Skandal mehr auslösen. Aber sind wir bei all der Freiheit heute tatsächlich sexuell gelöster, aufgeklärter oder gar zufriedener? Oder doch viel eher oversexed and underfucked?
Thomas Richters Ansatz ist wie bei Schnitzler, ein gesellschaftliches Panorama unserer Zeit über sexuelle (Nicht-)Begegnungen zwischen Menschen zu entwerfen. In ihren Gesprächen, Konflikten und Annäherungsversuchen fächern die Figuren das weite Bild des zwischenmenschlichen Miteinanderseins auf. Hinter der Fassade von sexueller Lust zeigen sie sich letztlich bloßgestellt in ihrer emotionalen Bedürftigkeit. Von Dora Schneider in Szene gesetzt, tanzen die Protagonist*innen durch eine Tragikomödie der ewigen Suche nach sich selbst und nach der Nähe zum Gegenüber.
Team
- Es spielen
- Text
- Regie
- Ausstattung
- Musik
- Dramaturgie
- Licht
- Ton
- Video
- Maske
- Regieassistenz
- Regiehospitanz
- Ausstattungsassistenz
- Kostüm-, Requisiten- und Fundusbetreuung
- Bühnentechnik
- Hans Egger, Katja Thürriegl
- Peter Hirsch
- Stefanie Elias
- Sandra Moser
- Andreas Nehr, Alexander Schlögl
Foto-Galerie
Kritiken
Über die Produktion
1920 REIGEN 2020
Man kann heutzutage über alles reden…
Sexualität, Liebe, Beziehung, ihre Verkettung und ihr gegenseitiges Bedingen vor dem Hintergrund einer postbürgerlichen Massen-Konsumgesellschaft ist auf der Bühne längst kein ausgesprochener Skandal mehr. Mit großer Gelassenheit bewegen wir ZeitgenossInnen uns durch die mit Reizen hoch gesättigte Sphäre des öffentlichen Sex. Alles liegt offen, zur Verfügung, zum Gebrauch, wird verstanden und erklärt, alles ist, wie ein populärer Buchtitel es so trefflich formuliert, "oversexed" , jedoch leider "underfucked" . Das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter der Überstimulierung und der Untererregung.
Nach der "seriellen Monogamie" und der "offenen Zweierbeziehung" sind jetzt "Poliamorie" und "Sologamie" heiß debattierte Begriffe auf dem Feld der avancierten Gesellschaftsforschung. Je nach Ideologie und allgemeiner Sicht auf die menschliche Natur werden diese von den DiskursteilnehmerInnen polemisch in Stellung gebracht, Erklärungsmodelle konstruiert und verteidigt, um Sexualität und ihre Reproduzierbarkeit mit technischen Mitteln im 21. Jahrhundert unter den Bedingungen des Web 4.0 zu diskutieren.
Die Sexual-Ökonomie heute: Ein Ich trifft auf ein anderes Ich und man tauscht Ware aus. Manchmal unter den Bedingungen eines Freihandelsvertrages mit starkem Akzent auf Wettbewerb. Oder: Unter ein wenig geschützteren Bedingungen einer gegenseitigen Abmachung, die man landläufig Liebesbeziehung zu nennen sich nicht abgewöhnt. Ein zumeist mündlicher Vertrag mit einer gewissen Dauer und Ausschließlichkeit andere MarktteilnehmerInnen betreffend. Auf gegenseitige Vorteile bedacht und ausgerichtet. Synergien lukrierend, um eine wie auch immer geartete Produktivität zu steigern, die man in der Außensphäre wieder gewinnbringend einzusetzen versteht. Um in diesen Konkurrenzen und temporären Kooperationen bestehen zu können, muss das Produkt anständig vermarktet werden. Selbstoptimierung ist angesagt. "Du musst deinen Körper ändern – nicht dein Leben". Rilkes Archaischer Torso Apollos gemahnt heutzutage mehr an Klimmzugstangen, Diäten und kosmetische Operationen als an ein metanoisches Erwachen.
Von diesem neuen Massentrend profitieren einschlägige Industrien und eine Unzahl diverser Online–Vermittlungsforen, die wiederum von den Werbeeinnahmen der genannten älteren Industrien befeuert werden. Ein ewiger Kreis. Was mit Anti-Aging-Cremes beginnt, soll mit dem perfekten Menschendouble enden. Liebende Roboter, lebende Computerprogramme, Androiden, gentechnisch veränderte, transhumane Lebewesen.
Thomas Richter ist ein investigativ gründlich recherchierender Theaterautor. Ein Nicht-schnell-Zufriedener, ein Ausgräber, ein Wühler in den oft seltsamsten Nischen, die das Netz und die Welt da draußen ihm öffnen. Seine Feldforschungen gehen über Monate, manchmal Jahre der Katalogisierung und Bestimmung der Phänomene hinweg, bevor er das Substrat seiner Fundstücke, seiner Ergebnisse, seiner Analysen und Gedanken in szenische Dialoge gießt.
Ihm analog und zur Seite, nicht minder behutsam, begibt sich Dora Schneider in der Regie auf einen kleinteiligen Weg der Auseinandersetzung und Zerlegung des Materials. Der Gang mit dem psychologischen Geo-Dreieck in der Hand über die ausgelegten dramatischen Strecken, diese zu vermessen, ist ihre Leidenschaft und Stärke. Die steile Vorlage: der Schnitzler’sche Reigen, dessen Uraufführung und dessen Skandal sich heuer zum hundertsten Male jähren.
Damals: geworfene Stühle, Stinkbomben, Teer-Eier, zertrümmerte Spiegel, "Man schändet unsere Weiber"-Rufe, Demonstrationen, antisemitische Ausritte, Prozesse. Das Theater wurde von der Bühnentechnik geflutet(!), um danach von der Feuerwehr wieder ausgepumpt zu werden. Beeindruckend. Man staunt. Das alles wegen dem bisschen angedeuteten Sex auf der Bühne. Nun gut: Die gründerzeitlichen Neurosen wurden von der verdrängten Sexualität befeuert, so belehrt uns die Psychoanalyse, von der miefigen Enge eines unbefriedigenden Ehelebens, den wirtschaftlichen Abhängigkeiten usw.
Und heute? Die Hölle der modernen Beziehung liegt im Überfluss, in der scheinbaren Freiheit, in der Langeweile und der Austauschbarkeit, in den unbegrenzten Möglichkeiten und Versprechungen des Marktes. Auch wenn an ihren Abhängen wohlduftend das Gleitgel hipper Onlineforen klebt, wohnt in der Tiefe nicht die Wahrheit, sondern einzig schwarze Einsamkeit.
Die Auslotung dieser Tiefenlandschaften, über denen in höchster Leichtigkeit der Dialog tanzt, ist hinsichtlich des Schnitzler’schen Projektes bei Thomas Richter und Dora Schneider in bester Tradition. Denn man kann heutzutage über alles reden, Vorlieben, Perversionen, persönliche Erfahrungen mit Prothesen, mit Sexarbeit, mit chemischen Stimulierungen, nichts ist tabu. Einzig über die eigene Inkompetenz auf diesem Felde, so Richter, sollte man tunlichst schweigen.
Aber wo bleibt bei alle dem die Liebe? Die Romantik? Die Vertraulichkeit? Und das uns von der Industrie verheißene Liebes- und Lebensglück? Wir MassenkonsumentInnen vereinzeln und vereinsamen hysterisch kommunizierend vor den Screens. Von Sinnkrisen, Depressionen und Burn-outs gebeutelt. Aber mit glückstrahlendem Profilbild. Was funktioniert da nicht?
Erlösungen? Antworten? Zumindest Tendenzen zu –? Thomas Richter und Dora Schneider geben sie uns nicht. Wie auch? Es gibt sie nicht. Die beiden versuchen eine welthaltige Bestandsaufnahme. Und das ist gut so. Denn hat man auf die Fragen, die der Entwurf eines erotisch-romantisch befriedigenden, lebenslangen Glücks stellt, eine Antwort, sollte man tunlichst in der Öffentlichkeit davon schweigen und privat tagtäglich an ihr arbeiten.
Gernot Plass
Künstlerischer Leiter