Iphigenie
Frei nach J.W. von Goethe
- Vorstellungsdauer
- ca. 70 Minuten, keine Pause
Uraufführung
Premiere: Mi. 30. Nov. 2022, 20.00
Mit Unterstützung von
Blankvers und Live-Tuba, Iphigenie in einem Bordell und Thoas als ihr Zuhälter: Angelika Messner bürstet IPHIGENIE gegen den Strich, sie überprüft mit ihrer Neufassung die moralisch so anspruchsvolle Rollenzuweisung, die frau in innere Nöte bringt.
Über Iphigenie
„Ein tragischer und auch komischer Abend. Großer Jubel.“ Kurier
Opferbereitschaft, Sanftmut, Duldsamkeit, Vermittlungsfähigkeit: Mit diesen vor Klischee triefenden Zuordnungen von Weiblichkeit sind Mädchen und Frauen auch heute noch konfrontiert. In der Atridentochter Iphigenie finden diese Stereotype ihre mythologische Verdichtung – vielfach behandelt von meist männlichen Autoren wie Euripides und Goethe. Schon deshalb ist die Figur im Zusammenhang mit aktuellen Diskussionen über Geschlechterrollen, Genderaspekte und Gleichstellung hochmodern.
Angelika Messner überprüft mit ihrer Neufassung die moralisch so anspruchsvolle Rollenzuweisung der Iphigenie, die frau in innere Nöte bringt. Sie verlegt die klassische Handlung ins Rotlichtmilieu. Iphigenie wurde als Mädchen von ihrem Vater verkauft und landete in einem Bordell. Dort hat sie sich nach zwanzig Jahren zu einer „Mutter Theresa der Nutten“ hochgearbeitet. Ihr Zuhälter Thoas, Chef einer mafiösen Organisation, macht ihr einen Heiratsantrag, den sie ablehnt. Das verletzt ihn in seinem männlichen Stolz. Zur Strafe gibt er ihr den Befehl, zwei Fremde aus ihrer Heimat, die seine Männer aufgegriffen haben, zu töten …
Der Text bekommt in der gebundenen Sprache des Blankverses eine soghafte Rhythmisierung. Als musikalische Weiterführung kommen verdichtende Sprachgesang-Texte hinzu, die vom bekannten Jazz-Tubisten Jon Sass live auf der Bühne begleitet werden. Es ergibt sich ein Spiel mit Wortklang, mit Bildern und Assoziationen mit dem Ziel, einen eigenen weiblichen sprachlichen Ausdruck zu finden.
Die Themen, die Angelika Messner mit der klassischen Handlung im Heute verhandelt, sind einerseits die Überprüfung der Existenz von echter Humanität in unserer Gegenwart sowie die Rolle der Frau als fremdbestimmtes Wesen. Wie kommen wir diesbezüglich aus unseren vorgegebenen Denk- und Handlungsmustern heraus? Und ist es möglich, im Rahmen dieser Befreiung dennoch menschlich zu agieren?
Team
- Es spielen
- Live-Musik
- Text
- Regie
- Ausstattung
- Musik
- Electronic Sounds
- Dramaturgie
- Licht
- Maske
- Regieassistenz
- Kostüm- und Requisitenbetreuung
- Tontechnik
- Dekorationsbau
- Wolfgang Schlögl
- Katja Thürriegl
- Peter Hirsch
- Hans Egger, Hanno Maria Frangenberg, Manuel Sandheim, Andreas Wiesbauer
Foto-Galerie
Kritiken
Über die Produktion
Handlungs-Erwartungen, Rollenzuschreibungen, Funktionen innerhalb von Systemen, Regeln, Sitten, Grundsätze und -rechte, Konformitäten. „Dies sollte man tun – jenes unterlassen!“ Die feinen Unterschiede wahren. Erkennen sollte man die eigentliche Aufgabe. Werden wir endlich erwachsen! Fügen wir uns in das Reich der Notwendigkeiten. Sagen wir nicht „Zwänge“, denn da klingt schon assoziativ der Begriff der Neurose an und davon kriegt man Neurodermitis (manchmal). Richten wir uns also ein und tun wir das Richtige.
Was aber, wenn nichts Richtiges im Falschen weilt? Sie kennen das Zitat? („Ist nicht von mir, ist von Adorno.“) Und so hat er es auch nicht gesagt. Adorno spricht vom falschen Leben, das im falschen Allgemeinen nicht mehr auffällt, obwohl es sich moralisch abgedichtet zum Richtigen bekennt. Sie kennen das?
Was aber, wenn man in der verwalteten Welt auf unbehagliche Widersprüche stößt zum eigentlich Eigenen, welches man mit „Menschsein“ oft nur unzulänglich beschreibt.
Mit Menschsein wäre hier ja nicht das schöne, aber immer leicht verlogene humanistische Wolkenkuckucksheim-Gedudel gemeint, sondern das oft allzu Menschliche. Was, wenn Bedürfnisse im Innersten ihre Ansprüche und Zumutungen anmelden, jedoch die Gesellschaft, der Staat, der Kult, der Zusammenhang, die Gruppe oder nur der Freundeskreis diesen Bedürfnissen nicht oder nicht mehr begegnet? Was, wenn der Verblendungszusammenhang nicht mehr verblendet und man durch die Schleier blickt? Nicht schön. Gar nicht. Eine magische Brille nicht mehr von den Augen bekommt, die alles entlarvt als Macht- und Ohnmacht-Verstrickung. Der eigenen Interessen mit denen der heute weltweit operierenden Faktoren, Agenden, Kapitalien? Man aber in Funktion ist. Oder wie in diesem Falle frau.
Wie eine Nachrichtenmoderatorin, der die Meldungen im Munde wie „modrige Pilze“ zerfallen, weil sie plötzlich erkennt, dass sie ein Teil der großen Erzählung ist, Funktion im Narrativ. Dass sie selbst der Mythos ist, Mythos geworden ist und man allgemein erwartet, dass sie ihre Rolle weiterspielt. Priesterin der Artemis auf Tauris. Wo liegt eigentlich dieses Land? Angeblich, so erzählen es die Alten, eine Halbinsel im Schwarzen Meer (fällt Ihnen da eine ein?).
In diesem Lande muss sie dem Medialen ihr hübsches Gesicht leihen, denn der Sender gehört dem Boss. Sie muss die Erzählungen schönreden. Das Kultische verklären, den Showblock ankündigen. Doch da gähnt der brückenlose Abgrund zwischen ihrer Eigentlichkeit und ihrer Charaktermaske. Dichtung und Wahrheit fallen unversöhnlich auseinander. Alles zerfällt in Teile und diese Teile wieder in Teile. Der Geist gewöhnt sich nicht hierher. Nun ist frau aber als Priesterin im stillen-lärmenden Heiligtum beauftragt, dem Kult mittels Ritus Leben einzugießen.
„Iphigenie bei den Taurern“ ist eine alte und starke Geschichte, Teil des Atriden-Mythos. Fertig aus- und abgedichtet. Goethe verwendet sie und ihre Titelheldin nicht nur, um den idealen Menschen zu zeichnen, nein – er will der alten Fluchgeschichte die Versöhnungs- und Toleranzformel seiner aufgeklärten Zeit zuschreiben und so die Wunden, die der Tantalide Atreus seinem Stamme riss, in seinen heimkehrenden Enkelkindern heilen. Viel weiße Salbe von der Marke Humana. Jaja, in den heiligen Hallen dieser Dichtung kennt man die Rache nicht …
Welche Figur also würde sich daher eher eignen, den Riss der Moderne darzustellen, als diese Priesterin der doch sehr rigorosen Jagdgöttin. Ist doch die Jagd im Modernen nahe-liegend ein Kampf um Einfluss-Sphären, Mehrwertschöpfungs-Möglichkeiten, Eigentum und Ressourcen geworden. Doch hier wartet heutzutage „der Knacks“, die Bruchlinie, die Wunde, die durch Nachkriegs-Wohlstand, Konsum, billige Gaslieferungen und soziale Zuwendungen nur verkrustet in der letzten Zeit uns wieder auffällt, da die Zeiten schlechter werden.
Angelika Messner ist nicht nur eine gewiefte Dramaturgin und Regisseurin, sondern auch mutige Autorin, da sie nicht vor der Herausforderung zurückschreckt, den goetheschen Apparat nach- und überzudichten. Der gebundenen Sprache des nicht bequemen klassizistischen Ausgangsmaterials begegnet sie mit ihren Pentametern und flicht so sehr geschickt in die Handlung subversive und analytische Formen und Begriffe in das Gewebe.
„Zwängen Sie sich bitte nicht in Schuhe,
die Ihnen nicht passen! Wie? Dieser innere Zwang,
sich nicht davonzustehlen, macht Ihnen Neurodermitis?
Es juckt? - Sie wollen die Probleme der Welt
so einfach wegkratzen? Was?
Von ihrer Oberfläche und auch innwendig?
Wir sind doch aus rostfreiem Stahl gemacht, meine Damen,
oder?“
Erwarten Sie keinen Wohlfühl-Abend. Hier gibt es wenig zu lachen. Iphigenies Opfermesser trennt die Widersprüche entzwei. Auf ihrem Altar liegen Lügen wie Tiere umher, deren Organe sie zum Ostinato-Kultklang der Kontrabasstuba zerlegt.
Ach ja – und dann wäre da noch das Ding, dass jede Frau ihre Schlachtbank mit sich trägt. Tagtäglich aufgeklappt, immer bereit, sich unters Messer zu legen, aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Gernot Plass
Künstlerischer Leiter des TAG