Fahrenheit 451
Bühnenfassung von Susanne Draxler und Mimu Merz
- Vorstellungsdauer
- ca. 95 Minuten, keine Pause
Premiere: Sa. 03. Okt. 2020, 20.00
Derniere: Mi. 30. März 2022, 20.00
Über Fahrenheit 451
Der dystopische Klassiker „Fahrenheit 451“ aus dem Jahr 1953 hat auf erschreckende Art und Weise unsere Gegenwart vorhergesehen: Bradbury prophezeit darin den visuell-digitalen Informationsfluss und seine Manipulationsmöglichkeit.
FAHRENHEIT 451 spielt in einem übermächtigen Staat, der die Bevölkerung bewusst unmündig hält, indem das Lesen von Büchern und damit einhergehend das Bilden von eigenständigen Gedanken und Gefühlen untersagt werden. Diese gelten als gefährlich, da sie die Gesellschaft destabilisieren könnten. Bücher werden als Hauptgrund für nicht systemkonformes Denken und Handeln angenommen und deshalb rigoros verboten. Die Bevölkerung wird mit sedierenden Drogen und Unterhaltungsmedien wie allgegenwärtigen Bildschirmen dumpf und ruhig gehalten. So wird sie vom eigentlichen politischen Geschehen geschickt abgelenkt.
Zum Aufstöbern aller noch existierenden Bücher und ihrer anschließenden Zerstörung gibt es die Feuerwehr – zweckumgekehrt Brände zu legen anstatt dieselben zu löschen. Der Protagonist Montag ist ein Feuerwehrmann, dem nach und nach Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns kommen.
Susanne Draxlers und Mimu Merz’ Ansatz ist es, mit ihrer Bearbeitung des Romans eine mögliche und vielleicht sehr nahe Zukunft zu zeigen, in der Politik nicht mehr von der Bevölkerung mitgestaltet wird, sondern eine virtuelle Macht die Herrschaft über das Bewusstsein der Menschen übernommen hat. Die neue Herrschaftsform ist die digital-totalitäre Diktatur. Das Erschreckende in diesem Zukunftsszenario ist, dass diese Diktatur vom Willen des Volkes getragen ist. Die Theaterfrau Susanne Draxler und Mimu Merz, Spezialistin für Visuals und elektronische Sounds, entwickeln gemeinsam einen faszinierenden Ausblick in eine Welt, die nur ein paar Atemzüge weit von uns entfernt sein könnte.
Team
- Es spielen
- Textfassung
- Regie
- Ausstattung
- Sound
- Dramaturgie
- Videoregie
- Maske
- Regieassistenz
- Regiehospitanz
- Kostüm- und Requisitenbetreuung
- Ton- und Videotechnik
- Lichttechnik
- Bühnentechnik
- Marissa Hübel
- Peter Hirsch
- Hans Egger, Katja Thürriegl
- Andreas Nehr, Alexander Schlögl
Foto-Galerie
Kritiken
Über die Produktion
Gernot Plass über die Produktion:
Schafe sind unglaublich genügsame Tiere. Sie brauchen kaum Pflege, kommen auch mit wenig Futter und Wasser aus. Sie laufen auf den riesigen Weiden herum und grasen alles ab. Diese konformen Kreaturen jedoch von ihrer Weide in die Koppeln zur Schafsschur zu bekommen, stellt für den durchschnittlichen Wollproduzenten eine nicht kleine pastorale Herausforderung dar. Unter australischen Merinoschafszüchtern jedoch hat sich eine sehr wirksame und unkomplizierte Methode verbreitet, die riesigen Herden ihrem kapitalverwertenden Zweck zuzuführen. Der gewiefte Züchter treibt die Tiere unter Zuhilfenahme einer Wolfs-Attrappe in die gewünschte Richtung. Die gutmütigen
Tiere lassen alles mit sich machen, gewährt man ihnen nur Schutz vor einer raffiniert ausgesägten und bemalten Pressspanplatte.
Ablenkung ist das Brot jedes Illusionisten. Er weiß den Blick des Publikums in die Gegenrichtung zu steuern, um die eigentliche Aktion, den Trick zu verbergen. Einfach magisch! Die Herzen und die Bewunderung fliegen ihm zu. Der Applaus und das „Da capo!“ ist ihm sicher!
Der menschliche Kern des Problems und die tatsächliche Ursache dafür, warum in Gesellschaften die Freiheit immer mehr abhandenkommt, ist heutzutage nicht etwa ein tyrannisches Regime oder ein wild gewordener Obrigkeitsstaat, welcher die Freiheit immer rigoroser einschränkt. Dies wäre gegen den Willen der Bevölkerung und ihrer Judikative gar nicht möglich. Es ist bei weitem subtiler. Bürgerliche Freiheiten verblassen allmählich, werden zu Hohlformen und diffundieren, weil die meisten Menschen als Gegenleistung für den Schutz vor einer realen oder auch herbeigeredeten Bedrohung die Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte geradezu verlangen. Die Kur mag um einiges schlimmer und zerstörerischer sein als die eigentliche Krankheit. Jedoch erwartet man sich Maßnahmen von den Regierenden, mit der Bedrohung umzugehen. Irgendetwas sollte und muss auch passieren! Untätigkeit führt in die Katastrophe! Also verlangt man geradezu einen robusten staatlichen
Zugriff, Ermächtigungslegislatur, Verordnungen und ist dementsprechend zur massiven Einschränkung von Freiheit bereit.
Die ausgepichte Eigenleistung von Regierenden und ihnen beigeordneten, nicht allzu kritischen Medien ist lediglich, das Bewusstsein der Bürger so zu manipulieren, dass sie unfähig werden, angemessene Schlüsse aus ihren eigenen Erfahrungen zu ziehen. Und niemand mehr sich auf seine
eigene Unterscheidungsfähigkeit, seine eigene Vernunft, die anzunehmen man doch aufgefordert ist, zu verlassen getraut. Man ist ausgeliefert: den Autoritäten, den großen Brüdern, den Ämtern, den offiziellen Stellen und ihren Erzählungen. Kritische und „wilde“, nicht von staatlichen Stellen approbierte Information ist verdächtig, gefährlich, der zu vernichtende Feind.
In Ray Bradburys bis heute unheimlich aktueller Dystopie FAHRENHEIT 451 ist dieser Feind die geistige Welt der Bücher. Der aufgebaute Popanz, die Krankheit, vor der die Menschen zu schützen sind, vor der sie sich zu fürchten haben und gegen die eine schneidige Feuerwehr in den Krieg zieht. Die Übertragungswege von Gedanken und Ideen werden in diesem in den Fünfzigerjahren unter den Eindrücken der McCarthy-Verhöre entstandenen Roman von einem allmächtigen Staat zurückverfolgt, eingehegt und vernichtet. Der Virus ist die Sprache in ihrer übertragbaren, geschriebenen Form. Ein Strang von geordneter Information, der eine Immunreaktion im Geiste des einlesenden Wirtes bewirkt und ein klinisches Bild von Zweifelsfähigkeit, Debatten-Freudigkeit und dem Hang zum gedanklichen Austausch bis hin zu erhöhter Empfindsamkeit und Entzündungsbereitschaft für Ideen erzeugt. Die Droge, das Medikament und die Impfung dagegen sind die staatlich kuratierten Bildmedien, welche sich die so gelenkten Untertanen mit riesigen, wandfüllenden Bildschirmen mit gesichtserkennender Software in ihre Häuser schleusen. Über diesen schwirren die Überwachungsdrohnen.
In der Gesellschaft aus Bradburys FAHRENHEIT 451 herrscht eine durch die offizielle Informationspolitik erzeugte frappierende Unempfindlichkeit gegen Gewalt und Krieg, gleichzeitig jedoch ein Klima der Angst. Nicht so sehr gegen die Bücher als Gegenstände selbst, auch nicht gegen die Krankheit, die sich durch diese verbreitet, da man längst gegen geistige Betätigungen herdenimmun geworden ist. Die Angst richtet sich, wie in jeder Diktatur, gegen Denunziantentum, Ächtung, Ausgrenzung, Bestrafung und wirtschaftliche oder sogar leibliche Vernichtung. Also geht man konform, schweigt, vertuscht, denkt nicht weiter nach. Und lenkt sich mit billigen Vergnügungen ab.
Mit Demokratie hat dies alles natürlich längst nichts mehr zu tun, welche ja von einem funktionierenden, öffentlichen Debattenraum lebt, in welchem Minderheitenmeinungen angehört und diskutiert werden. Aber dies ist ja auch die Agenda aller Dystopisten (so auch die Bradburys): die Darstellung eines Kerkers von Gesellschaft und die mitgelieferte Analyse, wie es so weit kommen
konnte, um als Warnung vor allen falschen Abzweigungen zu fungieren, welche eine durch starke Steuergefühle verwirrte Gesellschaft nehmen kann.
Susanne Draxler und Mimu Merz sind zwei unverzagte, mutige Theatermacherinnen, die sich für ihren Abend im TAG eben diese Vorlage wählten, um auf Grundsätzliches und Grundgesetzliches zu verweisen. Eine Übung in Analogie schlüssen. Denn auch Theater selbst ist lebensgefährlich geworden. Ansteckung (vor allem geistige) ist und war hier immer schon miteingeschlossen. Nur die Mutigen und Unverzagten finden sich also hier wieder und atmen schwer unter schützender Textur sich über die Strecke. Lustig ist das nicht und es ist auch nicht lustig gemeint. Es ist Übung. Einübung in das Gegebene. Das Gegebene als veränderbar zu zeichnen, ist jedoch die Arbeit des epischen
Theaters der Aufklärung.
Und was ist mit der Hoffnung? Endet das unliebsame Heute in einem neuen durchlüfteten und befreiten, reinen Morgen? Die eschatologische Erwartung auf Erlösung von all dem diesseitigen Übel. Wie sieht sie aus? Wo ist der Ausgang aus dieser platonischen Höhlenfinsternis? Wo der Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit? Gibt es eine Impfung gegen den Wolf? Oder verwandelt sich das gute Gestern über ein unaufmerksames Heute in ein schlechtes und völlig verengtes Morgen?
Wo Leben ist, wird es übertragen, weitergegeben und neu erzeugt und es läuft immer in Gefahr zu enden. Die messianische Impfung, die uns Erlösung verspricht, wird dereinst kommen, am Ende der Tage, die messianische Botschaft hingegen ist bereits hier und raubt dem Tode seinen Stachel. Das Wort ist: „Fürchtet euch nicht!“
Gernot Plass
Künstlerischer Geschäftsführer des TAG