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Nathan

Ein Ring ist ein Ring ist ein Ring

Von Thomas Richter

Frei nach “Nathan der Weise” von G.E. Lessing

Vorstellungsdauer
ca. 90 Minuten, keine Pause

Uraufführung

Premiere: Sa. 08. Okt. 2016, 20.00

Über Nathan

Gesellschaft, wie hast du’s mit der Religion? Politik, wie hast du’s mit der Toleranz? Durch den realen und herbeigeredeten Kampf der Kulturen werden wir tagtäglich gefordert, unsere eigenen Werte neu zu überprüfen. Organisationen wie der Islamische Staat, christliche Fundamentalisten oder jüdische Siedler sind für die Politik eine immense Herausforderung und zerstören bisher als selbstverständlich angenommene Regelwerke.



Alte und neue Mythen werden gegeneinander in Stellung gebracht, um politisches und militärisches Handeln zu rechtfertigen. Globalisierung und Freihandel stehen in einem krassen Widerspruch zur Reaktion der nationalen Volks- und Glaubensgemeinschaften. Die Auflösung dieser Gegensätze scheint unmöglich. Toleranz – das letzte Mittel. Aber ist Toleranz überhaupt eine taugliche politische Kategorie oder wiederum bloß Mittel hegemonialer Raison?



Dieser Frage stellt sich Thomas Richter und hat sich das Paradestück über den Toleranzbegriff schlechthin, Lessings „Nathan der Weise“, als Grundlage für eine heutige Sicht auf diesen etwas schwammigen Begriff gewählt. Sein NATHAN verblüfft durch eine völlig neue Herangehensweise an dieses alte Thema und macht dabei auch noch höllischen Spaß. Der kluge Text wird von Dora Schneider einfallsreich in Szene gesetzt. Ein höchst brisanter Abend mit Tiefgang und Humor.

Team

Es spielen
Text
Thomas Richter
Regie
Dora Schneider
Bühnenbild
Alexandra Burgstaller
Musik. Arrangements
Thomas Richter
Dramaturgie
Tina Clausen
Licht
Hans Egger
Ton
Peter Hirsch
Maske
Beate Bayerl
Regieassistenz
Renate Vavera
Regiehospitanz
Gina Grassmann
Technik
Frank Fetzer, Andreas Nehr

Foto-Galerie

Über die Produktion

„Selbst verschuldete Unmündigkeit“ – ist diese tatsächlich das von Kant uns mitgeteilte Gefängnis, aus dem herauszugehen man nur den „Mut zu haben“ brauche? Wäre es so einfach? Diesen „Ausgang“ zu finden? Dieses Synonym für die so bezeichnete Aufklärung?
Man glaubt, hätte man nur diese Unmündigkeit erst einmal aufgegeben, nachdem man einen dieser obligaten Ausgänge oder Öffnungen in ihrer situativen Hülle entdeckt hat, dann befinde man sich in einem seligen Zustand säkularer Erlösung. Glaubt man. Doch könnte eben dieser Glaube – nicht der Unmündigkeit nächste Tücke sein?

Man merkt, die Angelegenheit ist irgendwie unübersichtlich, vielschichtig und die Zahl der „Ausgänge“ ist ebenso wie die der „Ein- gänge“ Legion. Ja, es ist kalt da draußen in der Welt. Erst recht im Universum. Und jeden Tag verzeihen wir unseren Nestern ihren Mief.
Gewohnheiten, Neurosen, Rituale oder Süchte, diese Privat-Religionen der Individual-Seele. Sind sie nicht auch rosa tapezierte Wände unserer ganz persönlichen Haftanstalten?

Der Weihrauch und die Kinderchöre in den katholischen Diensten an der milden Gottheit. Das Fastenbrechen in der Abendsonne des Ramadan. Das freudige „Hava nagila“, nachdem der Fuß ein Glas zertreten hat. Das alles ist doch irgendwie auch schön. Ein wärmendes Reich, ein Zuhause, eine sinngebende Erhöhung. Wer will denn das gleich stigmatisieren? Und ist die Genesis nicht auch die bei weitem bessere Erzählung als die vom Urknall und der Evolution?

Ist „selbst verschuldete Unmündigkeit“ nicht vielmehr ein uns vor den Winterwinden bergendes Fell, das tagtäglich nachwächst? Sich dessen zu entkleiden, erscheint als das vermeintlich Einfache, das – um wiederum mit Brecht zu reden – „schwierig zu verwirklichen ist“. Aufklärung, dieses am Lederriemen des Verstandes geschärfte Messer, dieser Rasenmäher unserer selbst aufgeworfenen Maulwurfshügel, ist ein niemals abgeschlossener Vertrag mit der Vernunft. Ein unaufhörlicher Prozess. Wer da von sich behauptet, er wäre bereits „aufgeklärt“, es gebe an ihm nichts mehr, das nicht schon längst herausgeführt wäre aus der kindlich-idiotischen, angsterfüllten Vorzeit, „ist höchstens abgeklärt“ und ein Verlorener in den Hallen dieser von den Großen des 18. Jahrhunderts errichteten Kirche. Man ist ja auch nicht ein für allemal rasiert? Oder?

„Glaube“, selbst der an unser mechanistisches Weltbild, „ist letztlich keine Alternative zu einem anderen Glauben. Es gibt keine Alternative zum Glauben, außer dem ewigen Zweifel selbst“. Und der ist tagtäglich anzusetzen an den Schöpfungen und Setzungen und an den Gebäuden. Die Idee, dass der radikale Zweifel, das Negative also par excellence mehr Menschen eint, als jeder Glaube sie trennen könnte, hört sich gut an. „Das Problem nur: der Zweifel hat keine Lobby.“

Thomas Richter ist ein nachdenklicher Mensch, und wenn er solche Sätze formuliert, glüht in seinem Blick immer noch das alte Feuer, das die Enzyklopädisten, Kant und Lessing an uns weiterreichten. Der Glaube an den Besitz von Wahrheit mache – so Lessing, so Richter – träge und stolz. Der Zweifel hellwach und einsichtig in den immer möglichen, eigenen Irrtum. Eine Einschätzung allerdings, der die Website kalifat.com im Nachfolgenden widerspricht: „Denn so haben die Muslime Lessing tausendfach Lügen gestraft: (…) wer erkennt, dass es einen Schöpfer geben muss, der unsere Welt erschaffen hat, dem ist auch klar, dass nicht der menschliche Verstand in seiner Be schränktheit Wahrheit produzieren kann, sondern der Mensch viel-mehr auf die Offenbarung der Wahrheit durch den Schöpfer angewiesen ist. Und Allah erwies den Menschen seine Barmherzigkeit, indem Er ihnen als letzte Offenbarung den Koran herab sandte.“

Hm – das ist Dialektik. Ähnlich Wertiges kann man auch von jüdischen Siedlern in der Westbank oder auch von anglikalen Christen aus dem Bible Belt hören.

Was also bleibt, ist Toleranz.

Wenn Unmündigkeit ein Analogon für haarigen Hautbewuchs wäre, dann wäre Toleranz ein leichter Mantel in einem Schneesturm. Man hält es schon aus: das schlechte Wetter, den andern Glauben, die andere politische Überzeugung, das Fremde ganz allgemein. Ja – man durchleidet es.
Der alte Goethe wusste, „Toleranz – sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt Beleidigen.“ Lessings Schlusssatz im Nathan: „Unter stummer Wiederholung allerseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.“ Das klingt in seinem Optimismus irgendwie fast schon putzig. Umarmen also.

Denn mit unserer „Toleranz“ beleidigen wir Düsseldorfer Sala-fisten? Ein Kalifat in Köln? Interessanter Debattenbeitrag! Lasst uns drüber reden! Die letzte Schlacht am Berge Armageddon? Auf dass dann endlich – endlich der Messias komme? O.k., das denken wir mal durch. Will jemand Tee? Ach? Man sollte weibliche Beschneidung mit der männlichen vergleichen? Gut, wenn das gewollt ist. Ich bin zwar nicht dieser Meinung, werde aber alles dazu tun, dass sie geäußert werden darf …

Wie? Das stimmt nicht? Sollte nicht stimmen? Darf nicht stimmen? Was stimmt schon?
Das wäre – wie? – Relativismus? Nun. Wenn Toleranz als höchste Norm gilt, leidet oftmals auch berechtigte Kritik am Nicht-Annehmbaren? Wo ist also da die Wahrheit? Wer hat Wahrheit? Wessen „Tochter“ ist sie? Wo verbirgt sie sich? In der Wissenschaft vielleicht? Ist sie da nicht die jüngste Theorie, die eben Aufsehen macht? In der Kunst? Ist sie da nicht letztlich so etwas wie eine Stimmung, eine „ästhetische Erfahrung“ (Immer vorausgesetzt, es gibt so etwas)?
Nach dem linguistic turn in der Philosophie ist Wahrheit ohnehin nurmehr eine Eigenschaft von Sätzen. Keine Besitzform, kein Vermögen und schon gar keine „Universalie“. Wahr kann nur eine Aussage sein, wenn es ihr Gegenteil nicht ist.

Dora Schneider ist eine akribische Wahrheitssucherin, und in ihrer stillen, unaufdringlichen, aber dennoch scharf analytischen Art findet sie sie überall. In Texten in Schauspieler-Reden, in Situationen, die sie den Texten unter- und ihren Sprechern nahelegt. Sie selbstverschuldet sie. Und erst wenn sie alles gedreht, gewendet hat, bis Wahrheit aus den Sätzen tropft und aus den Situationen herausfällt, gibt sie sich zufrieden. Dora Schneider ist keine „gläubige Christin“, aber ist gläubig. Vor allem glaubt sie, so wie wir wenigen, noch fest an die Kraft des Theaters, dieser lügenhaften Ausdruckmaschine für Wahrheit. Dieser „selbstverschuldeten Schaubühne“ – dieser alten „Aufklärungs-Tante“.

Naiv? Wir bekennen uns schuldig, Euer Ehren! Unmündig? Tagtäglich. Im Tunnel aber gehen wir mal besser dorthin, wo das Licht herkommt. Sapere aude!

Gernot Plass
(Künstlerischer Leiter des TAG)

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